jazzkeller 69 e.V. Archiv


14.04.2024 - Einlass: 15:00:00 Beginn: 15:30:00
Industriesalon Schöneweide - Reinbeckstr, 9, 12459

Jazzkeller69 im Industriesalon: Christian Marien Quartett

Christian Marien Quartett - Antonio Borghini - Bass
Christian Marien Quartett - Christian Marien - Schlagzeug
Christian Marien Quartett - Tobias Delius - Tenorsaxophon, Klarinette
Christian Marien Quartett - Jasper Stadhouders - Gitarre

CD release „How long is now“ MarMade Records
Es gab eine Zeit, als man die Oranienburger Straße in Berlin-Mitte entlanggehen konnte, zum Himmel empor schauen und ein riesiges Wandgemälde mit der Aufschrift „How long is now“ auf der riesigen Wand des Tacheles sehen.
Diese Mauer ist nun hinter einer neuen versteckt, und dem Tacheles das Recht verwehrt, die Passanten unter ihr abzulenken.
Auch dieses Denkmal des Augenblicks gehört der Vergangenheit an. „How long is now“ war ohne Fragezeichen geschrieben.
Das Fehlen der Interpunktion verlieh der Zeile auf gewisse Weise einen potentiell stärkeren Charakter als mit diesem letzten Schliff. Sie ist ohne Kontext, erregt unsere Aufmerksamkeit, wenn auch nur für einen Augenblick.
Diese Platte bedient sich desselben Tricks, ist Frage und Aussage in einem. So wie großartige Improvisation sein sollte.
Für Improvisatoren taucht das Thema „Jetzt“ in den meisten Gesprächen über die Musik auf. Echtzeit Musik in Berlin hat eine neue Nomenklatur gefunden, um über Musik zu sprechen, die vollständig im „Jetzt“ gemacht wird.
Und Derek Bailey prägte den Begriff „the NOW now”, um die absolute Erfahrung der Präsenz zu beschreiben, die sich aus der Improvisation ergibt.
Historisch gesehen sind Aufzeichnungen, die „im Jetzt“ gemacht wurden, Dokumente, die im „Danach“ erlebt werden.
Die Band erlebt das „Jetzt„, und Sie erleben das „Damals„. Die Platte, die Du gerade hörst oder hören wirst oder gehört hast, präsentiert nicht das „Jetzt“ für Zeugen. Wie sollte sie auch?
Es ist komponierte Musik. So spielerisch sie auch ist und trotz all ihrer erstaunlichen Qualitäten ist es keine Musik, die vollständig in der Gegenwart gemacht wird, weil so viele Aspekte davon vorherbestimmt sind.
Vom rhythmischen Gefühl bis zu den melodischen Formen, den harmonischen Bewegungen und dem Zusammenspiel, das auf Bruchstücken und Scherben notierter oder gemeinsamer Ideen beruht.
Die Musik, die man dann hört, vermittelt dem Zuhörer meiner Meinung nach eine Erfahrung des „Jetzt„.
Und wie lange das ist, hängt von der Transzendenz der eigenen Erfahrung als Zuhörer ab. Das Jetzt ist ein Zustand des Bewusstseins.
Barre Phillips sagte einmal zu mir: „Große Musik ist großartig, weil man sich beim Hören nichts anderes wünscht. Trotz all ihrer Einschränkungen ist sie in dem Moment, in dem man ihr zuhört, vollkommen.”
Ich glaube, dass diese Qualität des völligen Eintauchens in eine Aufnahme nur dann möglich ist, wenn der Prozess etwas schafft, das über das ‚Jetzt‘ der Aufnahmesitzung und das Spielen darin hinaus lebt.
Es ist mutig von Christian, diese Frage zu stellen (die keine Frage ist). Denn es bedeutet, dass wir urteilen müssen: Hat es meine Aufmerksamkeit voll und ganz erregt?
Hat es mich gefesselt und mitgerissen? Hat es mich aus meinen Gedanken über die alltäglichen Angelegenheiten herausgerissen und mir mein eigenes ‚Jetzt‚ gegeben?
Durch das Zusammenbringen dieser erstaunlichen Gruppe von Spielern mit ihren zutiefst verspielten Charakteren und ihrer Liebe zu den Klängen und Ekstasen des freien Spiels ist eine ganz besondere Musik entstanden.
Melodiesplitter werden vom Bass zur Gitarre zum Saxophon und wieder zurück geworfen, Schatten tauchen nach dem hellen Funken eines rhythmischen Gefühls auf, und Echos, die ganze Refrains brauchen, um zurückzuspringen, ziehen uns hinein.
Mit den Elementen des Jazz auf so klare Weise zu spielen, sie zu brechen und dabei so viel Spaß zu haben, die Komplexität einzufangen und sie so natürlich erscheinen zu lassen – das ist, als würde man aus einem Flugzeug fallen und gleichzeitig versuchen zu tanzen.
How long is now? Die Antwort liegt in Ihrer Erfahrung und darin, wie präsent Sie als Zuhörer sein können, wenn Sie dieser Musik die Aufmerksamkeit schenken, die sie verdient.
~ Clayton Thomas (Sydney, August 2023)